Die andere Art, einen Sonnenaufgang zu erleben.

Sie müssen dazu nicht in die Berge. Die Sonne geht hinter dem Gaswerk von Castrop-Rauxel ebenso auf wie über dem Großglockner. Das Einzige, was Sie tatsächlich dafür tun müssten, wäre beizeiten aus den Federn steigen. Sollten Sie inmitten eines Häusermeeres leben, braucht es vielleicht einen halben Kilometer Fußweg zur nächsten Grünanlage. Aber Sie werden merken: es ist kein weiter Weg zum freien Blick auf einen Sonnenaufgang. Schwieriger zu verstehen ist der Zweck meines Vorschlags. Was, außer einem gewissen ästhetischen Genuss und der Befriedigung, einmal sehr früh aufgestanden zu sein, könnte so eine Aktion bringen? Gut, ich gebe zu, es handelt sich um eine feinnervige Sache. Sollten Sie ein grob gestricktes Gemüt Ihr Eigen nennen, erreicht mein Appell an die verborgenen Schichten Ihrer Sensibilität Sie unter Umständen mit Verzögerung. Doch das wäre kein Grund, sich zu verweigern. Wahrscheinlich erweckt meine Aufforderung, wieder einmal einen Sonnenaufgang zu genießen, Erinnerungen in Ihnen. Lassen Sie diese bitte zu, rekapitulieren Sie aus dem Gedächtnis, welche Anblicke sich Ihnen boten – und versuchen Sie die Gefühle nachzuerleben, die Sie damals empfanden. Das Letztere wird nicht einfach sein, denn Gefühle aus der Konserve sind zu Pseudogefühlen geschrumpft, erinnerte Gefühle sind gedachte Gefühle, sie sind ohne Einschaltung des Intellektes nicht mehr wiederherstellbar. Und um den Kontrast zwischen den im Marschgepäck Ihres Gedächtnisses mitgeführten Erinnerungen an emotional erlebte Sonnenauf- oder auch Untergänge und dem unmittelbaren Erleben eines solchen Ereignisses geht es mir unter anderem. Auf dem WEG wollen wir schließlich die qualitative Kluft zwischen dem unmittelbaren und dem erinnerten Erleben eines Naturschauspiels erkennen lernen.

Sie haben sich also aufgerafft und warten an einem günstigen Platz früh am Morgen darauf, dass die Sonne am Horizont erscheint. Lassen Sie nun alles Trennende, das zwischen Ihnen und dem Sonnenaufgang steht, beiseite. Denken Sie nicht darüber nach, was in den folgenden fünfzehn, zwanzig Minuten geschieht. Werden Sie Teil des Lichtes. Lassen Sie alles hinter sich zurück, was der Verstand erschaffen hat. Vergleichen Sie nicht. Vergessen Sie sich selbst, lassen Sie zu, dass die Psyche sich von allen Ihren Kämpfen und Sorgen entleert. Während Sie mit aller Intensität, deren Sie fähig sind, das Wunder der Natur erleben, tritt Ihr Denken von selbst in den Hintergrund. Es wird in diesen Minuten kein Gefühl des Getrenntseins geben, selbst das Gefühl, ein Mensch zu sein, ist vorübergehend nicht mehr da. Je sensibler Sie sind, desto eindringlicher wird sich Ihnen das Erleben von Einheit mit dem Sonnenaufgang und der ganzen Welt offenbaren. Wohl haben wir einen Teil unserer Verletzlichkeit im Lärm und der Hetze des Alltags, in der Grausamkeit des Wettbewerbs eingebüßt, aber wenn alle Ihre Sinne in diesen Minuten geschärft und ganz wach sind, wenn Sie allen Ihren Gedanken und Gefühlen, Ihren Schmerzen, Ihrer Einsamkeit und Ihren Sorgen gegenüber sensibel sind, erwächst aus der Beobachtung dieses „gewöhnlichen“ Sonnenaufgangs eine Erfahrung unbeschränkten Seins.

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7 Antworten zu Die andere Art, einen Sonnenaufgang zu erleben.

  1. Taononymus sagt:

    … und wenn Petrus die Outdoor-Morgendämmerung mit Wolken, Regen und Sturm vereiteln sollte, wie er das derzeit in manchen Ecken Deutschlands tut, dann kann man morgens um fünf ersatzweise auch mal zu einer lyrischen „Konserve“ greifen um in die richtige Stimmung zu kommen:

    http://www.songtexte.com/uebersetzung/james-blunt/high-deutsch-43d6b713.html

    http://www.youtube.com/watch?v=VYa_s1q3LWs

    … gesetzt natürlich man mag Popmusik 😉

    Schönen Sonntag noch,
    Taononymus

  2. gitti sagt:

    Lieber Herr Fischer!
    Danke für den schönen Text.Schon beim Lesen entsteht bei mir ein Einheitsgefühl vom Feinsten.
    Gerade zieht bei uns am Wolfgangsee ein ziemlich unheimliches Gewitter auf, was mir immer ein bißchen Angst macht.
    Danke (gerade in dieser Stimmung) für den SONNENAUFGANG!
    Gitti

  3. Matthias sagt:

    Eine wunder-volle Anregung!

    Dies entspricht im Grunde der Art, wie kleine Kinder wahrnehmen. Ein Kind, das etwas fasziniert betrachtet, ist ganz bei dem Betrachteten. Es ist „außer sich“, selbstvergessen. Und trotz der räumlichen Trennung vom betrachteten Objekt scheint das Kind mit ihm eins zu sein.

    Wenn es uns gelingt, uns auf kostbare Momente wie Sonnenauf- und untergang mit allen Sinnen einzulassen (wie Theo Fischer so schön schreibt), dann sehen wir nicht nur die Farben, hören wir nicht nur die „donnernde Stille“, fühlen wir nicht nur die Kühle, dann nehmen wir im vollen Sinn des Wortes wahr.

    Herzliche Grüße,
    Matthias

  4. Chris sagt:

    …manchmal wache ich früh morgens vor Sonnenaufgang auf, ohne dass ich mir es vorgenommen hätte. Wenn ich dann hinaus gehe und die Sonne aufgehen sehe, verhalte ich mich auf natürliche Art und Weise wie ein Kind, genau wie es Matthias schreibt. Ich habe Probleme mit „Denken Sie nicht darüber nach…“, wie es Theo Fischer empfiehlt. Das konnte ich noch nie, auf Kommando nicht zu denken; gerade dann erst recht denke ich.

  5. JE sagt:

    Lieber Theo,

    vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag in einer Zeit, in der das Wahrnehmen und Zulassen von Gefühlen zusehends verkümmert und das „Aufgehen“ im Moment uns leider weitgehend abhanden gekommen ist.
    In „Krishnamurtis Notizbuch“ (S. 156) findet sich eine Stelle, mit einer ähnlich schönen Beschreibung: „..es gab keinen Grund, keine Ursache für seine unglaubliche Schönheit, und deshalb war es schön. Es war das Wesen, nicht all der Dinge, die zusammengesetzt und zusammengefasst wurden, damit man sie fühlen und sehen kann, sonder der Gesamtheit des Lebens, die war und ist und sein wird, Leben ohne Zeit….“

    Herzliche Grüße
    JE

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