Die Dinge, die wir sehen, sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen.
Hermann Hesse
Neulich blätterte ich auf der Suche nach einem neuen Thema für unser Blog in dem Büchlein „Lektüre für Minuten“ von Hermann Hesse – und stieß auf Seite 113 auf den obigen Text. Ich hielt erst mal für Sekunden die Luft an, so verblüfft war ich über die Aussage des Schriftstellers. Denn mit anderen Worten, aber genau dem gleichen Inhalt pflege ich Gespräche mit Feriengästen zu eröffnen, die sich mit mir unterhalten, aber zu Anfang keine Fragen stellen möchten. Da erkläre ich dann sinngemäß, dass die Botschaft über das Tao zwar sehr einfach klingt, aber richtig verstanden, von gewaltigem Inhalt ist. Nämlich, dass wir über den Grund der Dinge zwar absolut nichts wissen, dafür aber jede Menge über uns selber. Mit der einen Ausnahme, dass unsere Existenz, unsere Welt und unser Erleben nur darum stattfinden, weil wir sie beobachten. Dass es unsere Wahrnehmung, unser Bewusstsein ist, das die Dinge kontinuierlich als schöpferischen Prozess erzeugt. Einzig durch uns wirkt der unbekannte schöpferische Grund sich aus, und unsere Wahrnehmung ist das Medium, durch das dieser Vorgang sich realisiert. Eine Selbsterkenntnis dieser Art verleiht dem Fragenden ein gewaltiges Volumen an Macht. Wir können nichts betrachten, ohne es erst einmal zu erzeugen – und dann auch noch, ohne dass unsere Beobachtung es verändern würde. Hermann Hesse hat das einst begriffen – und dafür bewundere ich ihn heute noch. Aber er ist nicht aufgestanden, hat gepredigt und versucht die Welt zu retten. Er hat es für sich gelebt, und das ist gut so.
Wenn Sie zu verstehen beginnen, dass Sie das, was Sie tagtäglich erleben alles selber durch Ihre Beobachtung erzeugen, beginnen Sie vielleicht, sich Ihrer Macht über das Leben bewusst zu werden. Aber bitte keine voreiligen Schlüsse in Richtung „positives Denken“. Unser Leben unterliegt dem Kontrastprogramm der Gegensätze. Gelingen wechselt sich mit Misserfolgen ab, aber wer konsequent im Geist des taoistischen Denkens den Dingen ihren Lauf lässt, statt ständig an ihnen herumzubasteln, wird deutlich weniger Yin und dafür mehr Yang-Effekte erfahren dürfen.
Hermann Hesse war kein Krishnamurti. Und doch haben beide etwas gemeinsam: Sie haben etwas außergewöhnliches geschaffen, während die überwältigende Mehrheit der Menschen ihr Leben unauffällig und ohne besondere Leistungen verbringt. Woher kam ihre Energie? Das Ergebnis ist auf jeden Fall bei beiden wertvoll und schön.
Ich bin über ZEN zum Tao gelangt. in dem ersten Buch, was ich gelesen habe, war ein außergewöhnliches Statement des ZEN-Meisters zu finden, das mich seither beschäftigt. Sinngemäß sagte er: es wird die westliche Kultur sein, die aus der Verbindung beider Kulturen eine neue, höhere Stufe der menschlichen Entwicklung erklimmen kann.
Vielleicht sind die östlichen und westlichen Traditionen auch so etwas wie Yin und Yang, die erst zusammen in einer qualitativ neuen Weise vollständig sind…
Was ist „wirklich“, wenn das, was wahrgenommen wird vom Wahrnehmenden abhängt. Es geht also um das richtige SEHEN. Ich bin mir sicher, eine tiefere Art des Sehens ist nicht möglich, solange einem nicht spirituell die Augen aufgehen.Und wie Hermann Hesse so schön schreibt; “ aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen.“
Liebe Grüße Gitti
wenn es schon so schwierig ist, die eigene Position in der Wirklichkeit zu bestimmen, wie sollte es dann jemals möglich sein, die der anderen zu beschreiben? das TAO, die Einstellung, oder wie auch immer wir unser mehr oder weniger gutes Setting nennen wollen, hilft uns nicht dabei unsere Position oder die der anderen in der Welt zu bestimmen, sondern es hilft uns dabei, sie auf dem Wege des Wachstums zu verlassen. Wobei man richtigerweise nicht mehr hinter die einmal erlangte Reife zurückfallen kann..
“ Der Tiger ist über die 5 Sinne mit der Außenwelt in Verbindung und sie mit ihm. Er ist ganz und gar in der Welt, und die Welt ist in ihm, denn er ist vollkommen leer. Kein Tigerstolz. Keine Tigerbiografie. Kein Tigerkindheitstrauma. Kein Tigerzukunftsprojekt. So ist er mühelos bemüht zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu fühlen und zu denken, was ist. Nichts hineinzudenken, nichts außer Acht zu lassen. ….“
aus Der Tigerbericht von Shunryu Suzuki-roshi