Des großen Lebens Inhalt folgt ganz dem Tao

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Des großen Lebens Inhalt folgt ganz dem Tao.                                                                           Das Tao bewirkt die Dinge. So chaotisch, so dunkel.                                                             Chaotisch, dunkel sind in ihm Bilder.                                                                                     Dunkel, chaotisch sind in ihm Dinge.                                                                                    Unergründlich finster ist in ihm Same.                                                                                    Dieser Same ist ganz wahr. In ihm ist Zuverlässigkeit.                                                                                                                                 Von alters bis heute sind die Namen nicht zu entbehren,                                                              um zu überschauen alle Dinge.                                                                                                 Woher weiß ich aller Dinge Art? Eben durch sie.

Den einundzwanzigsten Spruch Laotses habe ich wegen der letzten Zeile ausgewählt, weil diese in aller Klarheit sagt, wie sich das taoistische Denken den grundlegenden Fragen des Seins nähert. Doch sobald ich die einleitenden Sätze überlas, wurde mir bewusst, dass ich Ihnen Laotses gewaltige Stellungnahme zum Schöpfungsprozess nicht unterschlagen durfte. Um das Jahr 500 vor der Zeitrechnung gab es zwar Astronomen, aber noch lange nicht die Chaostheorie, die ihre Existenzberechtigung erst durch die Einsichten der Astrophysik bekam. Laotse beschreibt mit leidenschaftlichen Worten das Dunkel vor der Geburt der Welten und das Chaos im Universum, von dem wir erst in unserer Zeit dank der leistungsstarken Radioteleskope erfahren. Im Tao te king blickt er um Milliarden Jahre zurück und klärt in knappen Worten auf, wie das Tao die Dinge aus dem Nichts  hervortreten ließ. Laotse fand in der Beobachtung des Universums und damit in sich selbst die Nachrichten vom Chaos im Weltraum. Ohne die Hilfe eines Hubble-Teleskopes durfte er bezeugen, wie in unvorstellbar ferner Vergangenheit Sonnen explodierten und zu Nebeln wurden, wie die Galaxien sich formten, und er erfuhr von der Geburt junger Sterne. Wir mögen Laotses Kommentar zum Chaos, aus dem alles Geschaffene hervorgeht, als zu knapp, zu pauschal empfinden. Aber was bekommen wir denn in unseren Tagen außer phantastischen Bildern und den Kommentaren der Astrophysiker weiter geboten? Ihre Hypothesen bleiben auf Prozesse beschränkt, in denen aus dem Chaos bereits berechenbare Ordnungszustände hervorgegangen sind. Das Chaos selbst bleibt noch immer unbeschreiblich. Konstellationen, die wir begreifen, verändern sich zwar weiterhin, aber analog unserem Zeitgefühl unendlich langsam. Darum können wir trotz des nach wie vor chaotischen Verhaltens des Schöpfungsprozesses Muster ableiten, die zumindest für ein paar Jahrtausende stabil bleiben oder in dieser Spanne nur geringfügig mutieren. Nichtsdestoweniger ist die Evolution nicht von einem bestimmten Datum an abgeschlossen. Sie ist ein Kontinuum, welches das Universum nach wie vor verändert. Der unergründliche, finstere Same des Tao wirkt weiter.

Das Thema Chaos scheint damit ausreichend beleuchtet, aber ich schätze, wir sollten uns bezüglich unserer subjektiven Empfindungen doch noch ein  wenig damit beschäftigen. Denn wie alle vom Menschen im Laufe seiner Entwicklung vom Neandertaler zum heutigen relativ zivilisierten Modell geprägten Begriffe steckt auch in dem leichthin benutzten Wort mehr Sinn, aber auch Unsinn, als wir auf den ersten Blick realisieren. Nach unserem Gefühl zählen zum Chaos alle Zustände, die nicht mit unseren gewohnten Ordnungssystemen übereinstimmen. Gregroy Bateson glossiert unsere diesbezüglichen Probleme am Beispiel eines durcheinander geworfenen Kartenspiels. Für uns herrscht Ordnung, wenn die Karten in der Rangfolge ihres Wertes sortiert sind. Sobald ein vertrautes System durcheinander gerät, bedeutet es Chaos für uns. Dabei, so Bateson, bildet jede beliebige Abfolge aufeinander liegender Karten im gewissen Sinne ein Ordnungssystem – nur dass es eben nicht das unsere ist. Insofern dürfte eine beträchtliche Anzahl von Lebenssituationen, denen wir den Stempel Chaos aufdrücken, weil wir sie nicht überschauen und weil sie ganz und gar vom Gewohnten, Bekannten abweichen, durchaus ihre Ordnung haben. Aber da wir alle Herausforderungen grundsätzlich mit unseren durch ein festes System zusammengehaltenen Überzeugungen vergleichen, verstört uns jede Abweichung von der Norm. Wie beim willkürlich gemischten Kartenspiel tut sich unser Intellekt schwer damit, im scheinbaren Chaos die implizite Ordnung zu erkennen.

Insbesondere unsere Zweifel an der Wirksamkeit des WEGES, wie die alten Weisen und viele Dichter jener Zeit das Tao nannten, hängen mit unseren erstarrten Ordnungsbegriffen zusammen. Das Ordnungssystem, das wir Menschen wie ein Gitter aus religiösen und philosophischen Meridianen über dem Universum zeichnen, legt ein Weltbild fest, das nur sehr wenig mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Versuchen Sie sich zum Beispiel vorzustellen, dass in den Minuten, während Sie diesen Text lesen, Ihre Welt samt Ihrer Person sich binnen Nanosekunden ins Nichts auflöst, um dann ebenso schnell das vorhandene Schöpfungsmodell einer Wiedergeburt gleich wiederherzustellen. Wenn Lebewesen oder Gegenstände mit längerer Lebensdauer als ein Elementarteilchen ins Nichts eingehen, nennen wir es Vergänglichkeit und sagen, sobald es Menschen trifft, Sterben dazu. Das eine wie das andere folgt dem Wirken des Tao: es tritt aus dem unbekannten Grund hervor, vollendet seinen Zyklus und kehrt dorthin zurück. Das Teilchen existiert keine Sekunde lang, der Mensch kann in Ausnahmefällen hundert werden. Das Chaos des Ursprunges ist in Wahrheit Ordnung, aber sie ist extrem vielschichtig – sie verändert sich so spontan und unkontrollierbar, dass wir Menschen mit unseren begrenzten Fähigkeiten sie für das schiere Chaos halten müssen. Das Tao mischt eben die Karten der Schöpfung nicht nach den Regeln, die wir uns so mühsam zusammengereimt haben.

Wir fühlen uns bei der Vorstellung, in einem Universum zu leben, in dessen Konzept Sicherheit bestenfalls spärlich vorkommt und angesichts privater, nach unserem Gefühl chaotischer Existenzverhältnisse nicht unbedingt wohl in unserer Haut. Und Sie, liebe Leserin, lieber Leser stellen sich bei der Lektüre nicht ganz zu Unrecht die Frage, wie eine engere Beziehung zum Tao, dem Laotse diese Vorliebe fürs Chaotische bescheinigt, mehr Ordnung in Ihr Leben bringen kann. Hier darf ich Sie an die dem Vermerk über den unergründlich finsteren Samen folgende Zeile des Verses erinnern: Dieser Same ist ganz wahr. In ihm ist Zuverlässigkeit. Wenn es Ihnen gelingt, mit den Augen eines Laotse auf die Dinge zu schauen, und zwar auf alle Dinge, ohne Ausnahme – wenn Ihnen dies gelingt, dann werden Sie erleben, dass die Dinge sich Ihnen zu offenbaren beginnen. Es findet ein Prozess statt, der Laotse beim Blick auf den Sternenhimmel die Bewegung des Tao vom Chaos zur Ordnung offenbarte. Es muss kein spektakulärer Anblick sein, der uns Erkenntnis verschafft, selbst in den kleinsten Dingen verbirgt sich eine für den aufmerksamen Beobachter bestimmte Botschaft des Seins. Und bei jedem Problem, bei jedem Zustand der Unordnung, der Ihnen die Freude am Leben vergällt, haben Sie jene gewaltige Energie zum Gefährten, die einst aus einem Kern, vermutlich nicht größer als ein Stück Würfelzucker, explosiv unser Universum ins Leben rief.

Woher weiß ich aller Dinge Art? Eben durch sie. Dieser letzte Satz des Spruches hat mich besonders angesprochen. Er beantwortet die vielen Rückfragen, wie ein Mensch denn zum Verständnis des taoistischen Denkens gelangen kann. Das uns erhalten gebliebene Material der Vorzeit reicht im Grunde allein nicht aus, um daraus das Modell eines gelungenen, guten Lebens abzuleiten. Wie kann nun ein Mensch, der sich für den WEG entscheidet, herausfinden, wie er das Prinzip des Nichthandelns realisieren soll, und vor allem, wie sich Nichthandeln tatsächlich auf sein Wohlergehen auswirkt? Die Antwort steht bereits etliche Zeilen weiter oben: Dem Aufmerksamen offenbaren sich die Dinge selbst. Weil er sie beobachtet und sie zu Wort kommen lässt. Dies klingt simpel, anscheinend zu einfach, als dass es Wirkung hätte. Aber das ist ein Trugschluss. Es ist außerordentlich schwer, den eigenen geistigen Mund zu halten, wenn das Leben selbst sich zu Wort meldet. Wer diese Auskünfte sucht, muss lernen zuzuhören, muss lernen still zu sein und dem zu lauschen, was sich von dem metaphysischen Urgrund her in ihm regt. Auf diese Weise fand Laotse seine Einsichten. Seine Weisheit bestand nicht in der besonderen Fähigkeit, schöne Sprüche zu dichten – sie begann und endete mit seiner Bereitschaft, die Botschaften aufzunehmen, die von den Dingen ausgehen. Analog steht es Ihnen frei, dem WEG zu folgen. Sie folgen ihm ohne besonderen Entschluss, es braucht Ihre Entscheidung, den WEG zu gehen, nicht – Sie brauchen nur Aufmerksamkeit, dann werden auch Sie es wissen: aller Dinge Art.

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