Reife – der Schlüssel zum Glück

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                                     Pflicht oder Verantwortung?

Falls Sie erwarten, daß ich Ihnen jetzt mögliche Antwor­ten aufzähle, die Sie bei Übung Nr. 1 herausfinden sollten, muß ich Sie enttäuschen. Diese Geisteshaltung, die daraufwartet, daß andere die Lösung präsentieren, ist ein Merkmal der Unreife. Sie wären mit dieser Einstellung in bester Gesellschaft, denn unser Erziehungssystem läuft in allen seinen Verästelungen auf dieses die geistige Freiheit untergrabende Frage-und-Antwort-Spiel hin­aus, bei dem der Lernende niemals der Herausforderung ausge­setzt ist, etwas aus eigener Kraft herauszufinden. Ich will Ihnen dennoch über die etste Hürde helfen. Es geht bei der Aufgabe überhaupt nicht darum, daß Sie formulierbare Lösungen finden. Auch brauchen Sie keine Sorge um richtig oder falsch zu haben -es werden keine Noten verteilt, und es gibt keine Pluspunkte zu sammeln. Sie sollen einzig und allein beobachten. Wir wollen mit der Übung eine fundamentale Tatsache über Sie herausfinden, die Tatsache, ob es allein Ihr Denken ist, das Sie sich als Ich, als Person erleben läßt, oder ob es da noch etwas anderes gibt. Wohlgemerkt, wir veranstalten hier keine metaphysischen Träumereien, ich will Sie auf keinen Fall zu Mutmaßungen oder Schlußfolgerungen er­muntern. Eines sollen Sie wissen: Es ist gar nicht leicht, an sich eine Beobachtung vorzunehmen, ohne daß sich das Wissen ein­mischt, das wir über uns angesammelt haben. Die Gefahr, daß Sie anstelle der reinen Betrachtung Ihre Meinungen und Vorurteile Oberhand gewinnen lassen, das Beobachtete um gelesene, ge­hörte, geglaubte Bestandteile ergänzen, ist arg groß, ist gewaltig. Es heißt über den Schatten des eigenen Besserwissens zu springen, wenn Sie in der von mir vorgeschlagenen Übung zur Realität vor­dringen wollen. Akzeptieren Sie, was Sie feststellen, und schmük- ken Sie es nicht mit Phantasiegebilden und Theorien aus, die von anderen Leuten stammen.

Gehen wir einen Schritt weiter und untersuchen wir einen ande­ren Stülperstein zu Erwachsensein und Reife: Pflicht und Verant­wortung. Gehören sie zusammen, die beiden Begriffe? Ergänzen sie sich, wie Eros und Eiebe, Mann und Frau, Vogel und Euft, Fisch und Wasser? Handelt es sich um ein Geschwisterpaar, harmonie­rend, sich wechselseitig befruchtend? Mitnichten, in Wahrheit sind sich Pflicht und Verantwortung so feind wie Feuer und Was­ser. Das Vorhandensein einer dieser Eigenschaften als beherr­schendes Wesenselement schließt die andere aus! Von Kindesbei­nen an werden wir zur Pflicht ermahnt. Pflichten sind ihrer Natur nach Forderungen, einer Autorität zu gehorchen. Pflichttreue verlangt Gehorsam. Es beginnt mit der Erwartung der Eltern, daß ihr Kind sie dafür liebt, daß sie es großziehen. Am Anfang unseres Lebens steht damit bereits die Forderung im Raum, du mußt Mami und Papi liebhaben – eine Verpflichtung, der das hilflose Wesen sich kaum entziehen kann. Wenn es sich dieser Forderung verweigert, drohen die Eltern, dem Kind ihre Liebe zu entziehen. Dann folgen Pflichten in der Schule. Der tägliche Besuch des Un­terrichtes ist erzwungen, desgleichen das Lernen der Lektionen, die Hausaufgaben. Überall sind wir in unserer Kindheit von Auto­rität umgeben, überall sind wir Zwängen unterworfen. Selbst während der Ferien ist die Freiheit begrenzt: Um zwölf bist du zum Essen da, wirf keine Fenster ein, putz deine Füße ab, ehe du ins Zimmer trittst – und so weiter.

Im Beruf wird es nicht besser, egal, ob jemand oben oder unten in der Hierarchie landet. Ihm wird Gehorsam abverlangt, der Mensch hat sich dem System anzupassen. Und diese Verpflich­tung zum Gehorsam gegenüber Machtstrukturen ist auch dann noch wirksam, wenn eine Frau oder ein Mann eine hohe Position erreicht hat. Es heißt zwar dann, er, sie trägt die volle Verantwor­tung. Das stimmt. Aber es ist keine Verantwortung in Freiheit.

Auch hier müssen Pflichten, die eine höhere Autorität festgesetzt hat, erfüllt werden.

Pflichtbewußtsein ist eine intellektuell orientierte Gehirnfunk­tion. Sie basiert auf Lernvorgängen und funktioniert nach dem Prinzip von Lohn und Strafe. Wer treu und gewissenhaft seine Aufgaben ausführt, ohne von der vorgegebenen Linie abzuwei­chen, darf mit Aufstieg und Beförderung rechnen. Wer eigenwil­lig und unorthodox die eigenen Ziele verfolgt, landet oft genug im Abseits. Verantwortungsgefühl gehört dagegen zu den spontanen Gehirnfunktionen, gehört in diesen weiten, fast gänzlich unge­nutzten Bereich. Es kann weder trainiert noch gelehrt werden. Es schlummert in der Tiefe eines jeden Menschen und tritt nur des­halb nicht oder so selten in Erscheinung, weil es von Gehorsam und Autoritätshörigkeit überlagert wird. Verantwortung orien­tiert sich an keinen Regeln und gehorcht keiner Autorität. Gehor­sam ist für die Gabe Verantwortung ein Fremdwort. Sie handelt niemals auf Grund von Regeln oder Normen. Sie erscheint unver­mittelt, wenn eine Situation eintritt, die sie braucht, und würde den richtigen Tatimpuls auslösen, wenn wir sie nur ließen. Die Stimme der Verantwortung ist leise, man könnte sagen, wie das Gewissen. (Wobei ich an dieser Stelle gleich einschränken möchte, daß es zwei kraß unterschiedliche Arten von Gewissen gibt, näm­lich eines, das anerzogen ist und zum Komplex Pflichten gehört, und das andere, das sich im Rahmen echter Verantwortlichkeit offenbart.)

Verantwortung gehört zum Gefühlsbereich, Pflicht zu Denken und Verstand. Ich will hier keineswegs jede Art von Pflichterfül­lung verteufeln. Wichtiger ist, daß Sie sich über den Charakter der beiden Eigenschaften hinfort keinen Illusionen mehr hingeben. Jeder von uns hat seine Position im Leben, und uns sind Verpflich­tungen auferlegt, denen wir uns nicht entziehen können. Pflich­ten sind bequem, weil sie den Leuten einen klaren Handlungsrah­men vorgeben und ihnen die Qual der Wahl ersparen. Pflicht­erfüllung um jeden Preis führt freilich auch zum frühen Abbau

von Gehirnzellen. Der Geist erstarrt in seinen gefestigten Reak­tionsbahnen. Da ist keine Kreativität mehr möglich. Das Leben eines pflichtbewußten Menschen verarmt emotional bis zur gänz­lichen Tristesse. Im Geflecht sich überschneidender und ergän­zender Verpflichtungen bewegen wir uns durch den Alltag, der unser Leben ist. Unser Gehirn registriert nicht mehr, was es da tut: nämlich Gehorsam üben. Oft genug ist es nicht feststellbar, woher der Drang kommt, etwas tun zu müssen, damit nichts Böses geschieht.

Das Merkmal des wirklich erwachsenen Menschen ist, daß er Pflichten auf ein absolutes Minimum abbaut, daß er sich jeder einzelnen als Merkmal der Unfreiheit bewußt ist und daß er an­sonsten einzig aus der einsamen Position eigener Verantwortlich­keit heraus lebt und handelt. Der Schritt zur Verantwortung ist unbequem, weil er uns die Krücken nimmt. Maßstab für das Han­deln eines reifen Menschen ist die klare Sicht auf eine gegebene Situation und nicht die Regeln, die er etwa für diesen Fall im Ge­dächtnis gespeichert hat. Ein pflichtbewußter Mensch trägt noch lange keine Verantwortung, aber der im Vollbesitz seiner Verant­wortlichkeit lebende wird niemals pflichtvergessen sein. Er ver­weigert sich der Norm, aber er läßt nichts ungetan.

Hier ist Aufgabe 2: Benutzen Sie die für Übungen reservierte Minute pro aktiver Tagesstunde, sie läßt sich zeitlich durchaus neben Übung i durchführen — sofern Sie von der nicht bereits ge­nug oder eine Erkenntnis gewonnen haben.

Untersuchen Sie bei dem, was Sie gerade tun, ob Sie eine Pflicht erfüllen. Nehmen Sie diese Untersuchung auch dann vor, wenn es sich um eine private Aktion handelt, Freizeit, Beziehung, Ver­gnügen oder was immer (Sie würden staunen, wie oft sich die Teilnahme an einer Vergnügung als Pflichtübung herausstellt). Und lassen Sie einmal in sich hineinlauschend die Stimme Ihrer spontanen Verantwortung zu Wort kommen. Oft genug sagt die uns etwas voll ig anderes, was zu tun wäre, als die Stimme der Pflicht.

Zu unserem Bekanntenkreis gehört eine nette ältere Dame, die ganz allein ein hübsches Haus mit einem wunderschönen Park bewohnt. Ihre weit entfernt wohnenden Geschwister bedrängten sie ständig, doch endlich das Haus zu verkaufen und in ihre Nähe zu ziehen. Irgendwann gab sie dem Drängen nach und beauftragte einen Makler mit dem Verkauf und antwortete auf Immobilienge­suche. Es stellte sich ein Käufer ein. Man verhandelte über den Preis, und sie gab viel zu schnell dessen Drängen nach einem be­trächtlichen Nachlaß nach. Später bereute sie ihr Entgegenkom­men – sie befragte bei jedem /ug in diesem Spiel ihre Geschwister, die ihr natürlich rieten, um jeden Preis das Anwesen abzustoßen, damit sie es endlich los wäre. Der Käufer drängte beim nächsten Gespräch auf einen weiteren Preisnachlaß. Spontan stellte ihm unsere Bekannte <den Stuhl vor die Tun, sie lehnte ab und wies ihn hinaus und erklärte, sie würde ihm das Haus nicht verkaufen. Wo­chen später begann sie unter dem Drängen ihrer Verwandtschaft das Spiel von neuem. Wieder mit dem gleichen Interessenten. Und sie forderte diesmal den vollen Preis. Überraschenderweise akzeptierte der Mann. Man setzte den Notartermin fest. Und da begann von innen heraus die zarte Dame wieder zu bocken. Ohne sich über ihre Motive klarzuwerden, begann sie den Vertragstcxt zu manipulieren, ließ Irritationen aufkommen, stellte penible For­derungen an Zahlungsmodus und Formulierungen, bis der Käufer nebst Gattin schließlich erschöpft die Segel strich und sich aus der Geschichte zurückzog. Sie hatte ihr Haus wieder für sich und konnte den Geschwistern gegenüber Argumente für das Mißlin­gen vorbringen, die sie aus der imaginären Pflicht entließen.

Ich erzähle Ihnen diese an sich alltägliche Geschichte, weil sie für unsere Betrachtung signifikant ist. Das Verhalten unserer Be­kannten macht deutlich, wohin das Gefühl, anderen verpflichtet zu sein, führen kann. Und es zeigt ferner, wie sich unbewußt die wirklichen Wünsche der Betroffenen rührten und ihre scheinba­ren Fehlleistungen auslösten.

 

 

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