Von Hunden und Menschen

Frau Hasewinkels Urgroßmutter wurde einst als Kind von einem Hund gebissen. Vom Schäferhund des Nachbarn, der an der Kette lag und dessen Fluchtdistanz die Kleine missachtet hatte. Die Story vom Hundebiss wurde von jenem Zeitpunkt an über Generationen weiter vererbt. Frau Hasewinkel selbst war nie von einem Hund gebissen worden, sie hatte sich auch nie einen angeschafft, weil Hunde eben bissig sind. Und dann, inzwischen selbst Mutter, fährt sie eines schönen Tages ihr Töchterchen im Stadtpark spazieren, als ein kaum drei Monate alter tollpatschiger Labradorwelpe fröhlich am Kinderwagen hochspringt und versucht, die heraushängende Hand des Kindes zu lecken. Frau Hasewinkel reagiert nach Gefühl: „Nicht anfassen, der beißt!“ ruft sie schrill und reißt ihr bedrohtes Töchterchen aus dem Gefahrenbereich.

Frau Hasewinkel kann nichts dafür, dass sie so reagiert. Falls niemand ihre Kleine eines Tages eines Besseren belehrt, wird sie in der folgenden Generation in ähnlichen Situationen die mütterliche Matrix wiederholen und analog fühlen und handeln. Das Beispiel ist simpel, aber es leuchtet ein. Mir tut es jedes Mal um so ein Kind Leid, dem die Chance verwehrt wird, mit anderen Lebewesen zu kommunizieren, weil die kanalisierten elterlichen Gefühle es vereiteln. Andererseits kann Vorsicht bei unbekannten Hunden durchaus vernünftig sein und es liegt mir fern, aus diesem Beispiel das Drama vom unverstandenen Welpen abzuleiten. Mir geht es um etwas viel Umfassenderes.

Über unzählbare Generationen hinweg übernehmen Kinder von den Eltern die Verhaltensmuster, die diese ihnen vorleben. Das am meisten prägende Muster ist das der Abtrennung des Menschen vom Ganzen. Die bis vor weniger als einem Jahrhundert dem Volk innewohnende tiefe Gläubigkeit hat dafür gesorgt, dass die Kluft zwischen dem Universum und den darin lebenden Individuen kaum größer sein könnte. Und alle Erfahrung, die wir als Menschen zeitlebens gemacht haben, scheint die Annahme von der Richtigkeit unserer Subjektivität zu bestätigen. Frau Hasewinkel schreibt ihre Unversehrtheit von Hundebissen dem Umstand zu, dass sie sich grundsätzlich aus dem vermeintlichen Gefahrenbereich heraus hält. Ergo konnte sie nie die Erfahrung von der Harmlosigkeit der meisten Hunde sammeln. Ähnlich verhält es sich mit unserer Lebenserfahrung. Wir hatten von Anfang an niemals die Chance, auf die Ereignisse anders zu reagieren, als von einem Standpunkt der Getrenntheit aus. Und alle Erfahrung, die unser Gehirn gespeichert hat – und mit der es die jeweils neuen Geschehnisse zur Entscheidungsfindung abgleicht – basieren auf der niemals in Frage gestellten Überzeugung, dass wir und diese Erfahrungen getrennt voneinander sind. Frau Hasewinkel wird jederzeit Eide darauf leisten, dass ihr einzig wegen ihrer Wachsamkeit gegenüber Hunden größere Verletzungen einschließlich möglicher Implikationen wie Tollwut oder Blutvergiftungen erspart geblieben sind. Wir denken über unsere Getrenntheit allerdings bei den Ereignissen unseres Alltags niemals so heftig wie Frau Hasewinkel über Hundebisse nach. Ihr mag die Botschaft vom Störfall der Urgroßmutter aus Erzählungen noch in Erinnerung sein, aber beim einst geschehenen Austritt des Menschen aus der Einheit gibt es leider keinen Präzedenzfall, an den sich jemand erinnern könnte. Die Trennung geschah allmählich, als unsere Urvorfahren sich ihrer Individualität mehr und mehr bewusst wurden und daraus, wahrscheinlich unter dem Einfluss ihrer Schamanen, die in uns allen heute noch wirksame Subjekt/Objekt-Beziehung entwickelten.

Wir mögen Frau Hasewinkels Hunde-Phobie belächeln und ihr ihre Scheuklappen gegenüber dem tatsächlichen Verhältnis zwischen dem besten Freund des Menschen vorwerfen – aber um wie viel starrköpfiger, unbelehrbarer folgen denn wir jenen falschen Mustern, die seit Beginn der Jungsteinzeit (dort ist es vermutlich passiert) über viele hundert Generation bis in unsere Kinderstube hinein der jeweiligen Brut vorgelebt worden sind?

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5 Antworten zu Von Hunden und Menschen

  1. Chris sagt:

    Ich bin voll und ganz Ihrer Meinung, Herr Fischer!

    Danke, dass es Sie gibt!

  2. Lieber Herr Fischer
    Ja, wie Recht Sie haben mit Ihren Aussagen…! Übrigens auch Ihr Werk: Das Tao der Selbstfindung… ist ganz einfach brillant, das müsste eigentlich bereits in der Volksschule gelehrt werden, genauso wie Ihr Wu wei…! Machen Sie weiter so….

    Mit herzlichen Grüßen
    Albrecht Lauener

  3. Taononymus sagt:

    Hallo Herr Fischer,

    welche Anhaltspunkte haben Sie für Ihre Vermutung, dass sich unsere heutige Selbstwahrnehmung als von unseren Erfahrungen getrennte Ichs ausgerechnet in der Jungsteinzeit entwickelt hat?

    Das Umfeld, aus dem heraus sich etwas neu entwickelt, ist ja nicht ohne Bedeutung und Aussagekraft für die Natur dessen, was sich darin entwickelt hat. Ganz egal ob es uns nun HEUTE eher schaden als nutzen mag, zumindest im damaligen Umfeld muss es mehr genutzt als geschadet haben, sonst wären wir heute nicht hier 🙂

    Viele Grüße,
    Taononymus

    • Theo Fischer sagt:

      Hallo Taononymus,

      das mit der Jungsteinzeit ist Vermutung. Aber was uns aus jener Zeit an Geschichte überliefert ist, deutet darauf hin, dass in jener Phase eine Individuation stattgefunden hat: Es bildeten sich die ersten Herrscherhäuser und andere Hierarchien heraus, die ersten stadt-ähnlichen Ansiedlungen wurden gebaut, die Menschen erschufen sich die ersten nachgewiesenen sozial-gesellschaftlichen Strukturen – undsoweiter. Im Grunde wird die Geschichte der Evolution nach meinem Gefühl nach der Geburt eines Säuglings bis hin zum Erwachsenen bis zu einem gewissen Grad in jedem Individuum nachvollzogen. (Und auch im individuellen Bereich verharren mache Leute – vorwiegend Männer – bis ins hohe Alter hinein noch immer in der Steinzeit. TF

      • Taononymus sagt:

        Hallo Herr Fischer,

        danke für die Klärung, ich glaube ich verstehe jetzt welche Art von generationenübergreifend weitergegebenen Mustern Sie meinen. Und für die Annahme, dass diese Muster gemeinsam mit dem Übergang zur Jungsteinzeit aufgetreten sind, gibt es durchaus eine ganze Menge stützender Forschungsergebnisse aus verschiedensten Fachrichtungen (Stichwort beispielsweise: „ neolithische Revolution“).

        Sehr vereinzelt existieren ja bis heute noch Gesellschaften, die diesen Schritt nicht vollzogen haben und vor der Jungsteinzeit stehen geblieben sind.
        Die Berichte von „modernen“ Menschen, die mit diesen „Vor-Jungsteinzeitlern“ Kontakt hatten und zumindest versucht haben, in den Spiegel zu schauen und halbwegs ehrlich zu berichten was sie sahen, lassen erahnen, wie hoch der Preis war, den die Menschen für die „neolithische Revolution“ zu entrichten hatten.

        Bei Interesse hierzu empfehlenswert:
        Jean Liedloff: „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“,
        http://www.amazon.de/Suche-nach-verlorenen-Gl%C3%BCck-Gl%C3%BCcksf%C3%A4higkeit/dp/3406585876/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1316876695&sr=8-1
        Interessant hier: der englische Originaltitel von Jean Liedloff heißt „The continuum concept“.

        Oder auch das Buch von Daniel L. Everett: „Das glücklichste Volk“,
        http://www.amazon.de/Das-gl%C3%BCcklichste-Volk-Pirah%C3%A3-Indianern-Amazonas/dp/3421043078/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1316876795&sr=1-1

        Mich haben diese Bücher jedenfalls sehr zum Nachdenken über die von Ihnen in Ihrem Text angeführten tradierten Verhaltensmuster angeregt. Und an manchen Stellen scheint mir die Lebensweisheit des Taoismus der Nachhall von etwas zu sein, das sich aus der Zeit vor der „neolithischen Revolution“ bis heute „durchgemogelt“ hat. 🙂

        Viele Gruesse,
        Taononymus

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