An der Quelle des Tao

64

Was noch ruhig ist, lässt sich leicht ergreifen.                                                                                Was noch nicht hervortritt, lässt sich leicht bedenken.                                                               Was noch zart ist, lässt sich leicht zerbrechen.                                                                             Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist.                                                                         Man muss ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist.                                                                  Ein Baum von einem Klafter Umfang entsteht aus einem haarfeinen Hälmchen.                  Ein neun Stufen hoher Turm entsteht aus einem Häufchen Erde.                                               Eine tausend Meilen weite Reise beginnt vor deinen Füßen.

Ehe Sie weiter lesen, hätte ich die Bitte, dass Sie den obigen Spruch zuerst auf sich einwirken lassen und in sich hinein lauschen, was er Ihnen zu Ihrer persönlichen Lebenssituation sagen möchte. Welche Assoziationen lösen Laotses Worte in Ihnen aus? Stellen sich Gedanken an Gewohnheiten ein, an Anfänge, die einst Spinnweben waren, heute aber zu Drähten geworden sind, zu Fesseln, die sich nicht mehr so leicht abstreifen lassen? Was noch ruhig ist, lässt sich leicht ergreifen. Der Satz, für sich allein stehend, klingt harmlos. Er gewinnt in dem Maß an Gewicht, in dem sich in unserem Leben eine Krise zusammenbraut. Nehmen wir uns zur Verdeutlichung ein simples Beispiel vor, einen schleichenden Vorgang, dessen Anfänge selten die spätere Gefahr erkennen lassen: An einem kalten Wintertag bietet Ihnen im Skihotel ein Bekannter eine Prise Schnupftabak an. „Nehmen Sie einen Schmalzler“, sagt er, „das tut gut und macht die Nase und die Atemwege frei.“ Sie haben keine rechte Lust, aber aus Höflichkeit, um den anderen nicht zu verstimmen, nehmen Sie die kräftige Prise, die er Ihnen aus einer winzigen Blechdose auf den Handrücken schüttet. Der Lustgewinn hält sich in Grenzen, aber als Ihnen am gleichen Tag vom gleichen Mann nochmals das Döschen offeriert wird, greifen Sie zu und bedienen sich diesmal sogar selbst. Es dauert nicht lange, dann stehen Sie einige Tage später vor dem Kiosk einer erstaunlichen Auswahl an Schnupftabaken gegenüber mit allen möglichen Geschmacksrichtungen und sie wehren sich erst gar nicht gegen die Versuchung und kaufen eine Sorte mit Minze, bereits beschließend, sich bei dem Bekannten für seine Gabe zu revanchieren. Und wieder daheim, im Alltag, ertappen Sie sich dabei, dass Sie das Döschen geleert haben. Nicht an einem Stück, aber so nach und nach. Und Sie reden sich ein, es sei Neugier, dass Sie diesmal beim Kauf der zweiten Ration Ihres Lebens eine andere Mischung wählen. So nimmt das Schicksal seinen Lauf. Sie finden Ihre Lieblingssorte heraus, die Intervalle, in denen Sie das Gefühl haben, eine Prise zu brauchen, werden kürzer und bald sind Sie Stammkunde im Tabakladen und das Mädchen hinter der Theke lächelt Sie an und greift zielsicher zur inzwischen vertrauten Marke. Die Zunahme der Gewohnheit vollzieht sich allmählich.  Später ist es unmöglich, den Zeitpunkt zu bestimmen, wo die Mutation von Gewohnheit zur Sucht stattfand. Auf der Strecke bis dahin gäbe es etliche Stationen, wo man leicht noch hätte Abhilfe schaffen können – wäre da nicht bereits das Gefühl von Verlust gewesen, wenn es galt, auf den kleinen Lustgewinn zu verzichten, der sich so leicht beschaffen ließ. Das meint Laotse, wenn er fort fährt: Was noch zart ist, lässt sich leicht zerbrechen.

Nun gibt es in den solitären taoistischen Überlieferungen – das sind jene, die noch unberührt von indischen Einflüssen sind und die nicht aus Quellen stammen, die räuberische Machthaber zum eigenen Nutzen verfälschten – keine speziellen Forderungen auf ein Leben, das auf Ernährung und Arterhaltung reduziert ist. Die Weisheit wesenhafter Menschen drückt sich darin aus, dass sie sich mit dem Lauf der Dinge ohne Gewaltanwendung bewegen. Und dies schließt das glückliche Genießen der Angebote des Lebens an keiner Stelle aus. Diesbezügliche Einschränkungen in den Schriften eines Laotse oder Chuang tzu dürfen als Warnung verstanden werden, auf die Anfänge von Entwicklungen zu achten, deren Endstadium unweigerlich zu Misserfolg, Leid und Unglück führt. Eine Schneewand in den verschneiten Bergen mag sich einen Winter lang an ihrem Platz halten, bis ein Kind einen Schneeball darauf wirft. Dieses kleine Mehrgewicht ist imstande, eine alles zerstörende Lawine zu Tal zu schicken. So mögen kleine, aber zunehmend häufiger auftretende Verstimmungen in einem Liebesverhältnis lange Zeit von keinem der Partner als gefährlich für ihre Verbindung eingestuft werden – aber unversehens ist eines Tages der Bruch da, wie der Schneeball des Kindes genügt das falsche Wort, um eine Beziehung zum Einsturz zu bringen. Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist. Aber es sind nicht nur Beziehungskrisen und Suchtszenarien wie Drogen, Nikotin, Alkohol, Medikamentenabhängigkeit, Spielsucht oder Sammelleidenschaft bis hin zu totaler Verschuldung, die im Sinne von Laotses Spruch in unserem Kulturkreis das Problem bilden.

Das menschliche Naturell ist in seiner Grundstruktur geradezu prädestiniert für die Entstehung von Bindungen und geistigen Fehlhaltungen. Das Wissen um unsere Endlichkeit sorgt für eine Lebensgier, der bei den üppigen Angeboten unserer Gesellschaft scheinbar keine Grenzen, sie auszuleben, gesetzt sind. Die Gefahren für unseren Frieden und unser Glück schlummern in den Anfängen. Als vernünftiger Mensch achten Sie gewiss darauf, dass die groben Suchtmittel Ihnen nicht zu nahe kommen. Doch wie sieht es in Ihren Beziehungen aus? Im Beruf, bei Ihren Geschäften? Und wie ist es um Ihre Gesundheit bestellt? Um Ihre Ernährungsgewohnheiten? Hat Sie mit dem neuen Handy die Telefonitis im Griff? Es gehört beinahe schon zur Regel, dass Jugendliche sich durch hemmungsloses Kommunizieren über das neue Medium bei der Telecom mit tausenden Euro total verschulden. Stört Sie der kleine Riss im Mauerwerk Ihres alten Hauses oder die vereinzelte Stelle, wo bei Regen Wasser durchs Dach dringt? Warten Sie ab, bis der Schaden größer wird, weil es sich nicht lohnt, sich wegen dieser Bagatellen bereits aufzuregen? Machen Sie als Selbständige(r) gerne die Buchhaltung? Wie viele Monate sind Sie im Rückstand? Ich wurde einmal zu einer mittelgroßen Firma gerufen, deren Rechnungswesen kollabierte – die Buchhaltung war seit einem Jahr nicht gemacht. Man hatte nur für die periodischen Umsatzsteuererklärungen mit der Addiermaschine die Beträge zusammengezählt und den Rest samt den unsortierten Belegen liegen gelassen. Oder scheuen Sie vor der Erledigung Ihres Rechnungswesens darum zurück, weil die Resultate Signale des baldigen wirtschaftlichen Untergangs aussenden würden? Das ist auch einer der Gründe, warum wir uns davor drücken, zum Arzt zu gehen. Da gibt es diese kleine harte Stelle in der Armbeuge. Unsere Phantasie suggeriert uns regelmäßig Krebsängste, die wir ebenso regelmäßig beschwichtigen. Wir leiden lieber vor uns hin, statt uns Gewissheit zu holen. Ich weiß aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis von mehreren Fällen, wo Ängste überwunden wurden, und Wucherungen sich als harmlos herausgestellt haben. Sehen Sie, dies alles möchte uns Laotse sagen, der zu seiner Zeit kaum eine unserer Möglichkeiten hatte, sich das Leben durch Unachtsamkeiten aller Art schwer zu machen. Man muss ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist.

Es steht mir nicht zu, Ihnen Fragen wie die obigen zu stellen und es sei betont, ich frage für Sie, nehme Ihnen gewissermaßen einen Teil der Selbstbetrachtung ab. Die berührten Punkte sind ohnehin nur die Spitze des Eisbergs, ein Abriss zahlloser Ansätze in uns schlummernder Gewalten, die zugleich Feinde unserer Freiheit sind. Die Anfänge im Auge zu behalten und nicht abzuwarten, bis der angehäufte Berg zu groß zum Abtragen geworden ist, bezieht sich aber nicht allein auf unsere Laster, auch die unreflektierte Duldung von Missständen zählt dazu. Wer an seinem Arbeitsplatz gemobbt wird und sich nicht sofort auf die Hinterbeine stellt, wird zum gequälten Opferlamm, und die Unterdrückung hat kein Ende mehr bis die Nerven versagen. Den Anfängen wehren ist kein Gebot der Duldsamkeit, im Taoismus hat Duldsamkeit nur so weit Platz, wie man die Schwächen anderer in Güte toleriert, soweit sie die Finger von unserem Wohlergehen und Wachstum lassen. Niemand fordert, dass wir uns der Bosheit aussetzen, nur um gewisse Regeln zu erfüllen, für die es den Lohn nicht hier auf Erden gibt.

Insgesamt ließe sich zusammenfassend sagen, dass der im Sinne Chuang tzus wesenhafte Mensch in erster Linie in seinen lustvollen wie auch in seinen zornigen Lebensäußerungen das Nichthandeln übt. Was meint, dass sein Wissen und seine Erfahrung, die das Ich bilden, sich heraushalten und er auf die Dinge spontan und intelligent reagiert. In dieser Geisteshaltung gestattet er sich angebotene Wohltaten ohne Gewissensbisse, aber er sorgt dafür, dass sie ihm nicht zur Fallgrube werden. Das heißt, er nimmt seine Gewohnheiten kritisch unter die Lupe und verändert sie, sobald er realisiert, dass sie Suchtcharakter annehmen. Diese Hinweise sollen Sie ermutigen, sorgfältig auf die Anfänge und den Verlauf Ihrer Leiden, Ärgernisse und Freuden, Ihrer Beziehungen und Verantwortlichkeiten zu achten und ihnen im Geist von Lao tzu zu begegnen.

Lassen wir ihm das letzte Wort:

Wer handelt, verdirbt, wer ergreift, lässt entgleiten.

Weil der Weise nicht handelt, verdirbt er nichts,

weil er nicht ergreift, lässt er nicht entgleiten

Die Angelegenheiten der Menschen werden oft einen Schritt

vor der Vollendung verdorben

Durch Behutsamkeit am Ende, gleich wie am Anfang,

wird Misslingen verhütet

 

Dieser Beitrag wurde unter Taoismus abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert