Schaffe Leere bis zum Höchsten

16

Schaffe Leere bis zum Höchsten!  Wahre die Stille bis zum Völligsten!Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.  Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,  ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.  Stille heißt Wendung zum Schicksal,
Wendung zum Schicksal heißt Ewigkeit.  Erkenntnis der Ewigkeit heißt Klarheit.

Wenn Sie die obigen Zeilen aus Laotses 16. Spruch aufmerksam und eventuell mehr als einmal lesen, beginnen Sie vielleicht zu ahnen, dass hier in einer für uns ungewohnten Sprache die Antwort auf das steht, was die Philosophen seit Jahrhunderten zu entschlüsseln suchen. Der Text stammt aus der Übersetzung von Richard Wilhelm, den ich persönlich als den besten Kenner und seriösesten Interpreten des Taoismus einschätze. Es ist die Antwort auf die Sinnfrage. Sie ist nicht einfach zu verstehen, einmal wegen ihrer kaum mit unserer Alltagssprache konformen Wortwahl und zum anderen, weil wir zu ihrem Verständnis vorher die Grundannahme über unsere Individualität und die meisten unserer Glaubenssätze aufgeben müssten. In der Übersetzung Lin Yutangs liest der Spruch sich eine Idee verständlicher:

Erreiche die äußerste Passivität.   Halte fest an der Grundlage der Ruhe.

Die zehntausend Dinge nehmen Gestalt an und steigen zur Tätigkeit auf.

Ich aber sehe zu, wie sie zur Ruhe zurückkehren.  

Wie Pflanzen, die üppig sprießen, aber zur Wurzel zurückkehren, der sie entsprossen sind.

Zur Wurzel zurückkehren ist Stille,   es heißt, zum eigenen Schicksal zurückkehren.

Zum eigenen Schicksal zurückkehren heißt, das ewige Gesetz finden.

Das ewige Gesetz erkennen ist Erleuchtung

Lin Yutang lässt in seiner Auslegung des Textes Chuang tzu zu Wort kommen und dieser schließlich liefert uns in einer vereinzelten Passage des voluminösen Kommentars den Schlüssel zum generellen Verständnis nicht nur dieses Spruches, sondern – der ganzen taoistischen Philosophie! Die Lehre von der Passivität (Leere) und Ruhe ergibt sich von selbst aus der Lehre von der Wiederkehr. Tat und Tätigkeit werden als zeitweilige Kundgebungen des Tao angesehen, während die Ruhe als die zu ihrer Urform zurückgekehrte Form des Tao betrachtet wird. Die Lehre von der ewigen Rückkehr aus der Tätigkeit in die Untätigkeit ist die Grundlehre des Taoismus.

Die Antworten auf Laotses kryptische Formeln sind da, und sie lassen sich entschlüsseln. Doch wir müssen umdenken, wenn wir das Unermessliche, das die Zyklen von Werden und Vergehen hervorbringt, verstehen wollen. Deutlicher ausgedrückt: Die Einsicht in die universalen Prozesse, die zugleich die Erkenntnis vom Sinn unserer Existenz einschließt, kann einzig um den Preis eines neuen, ungewöhnlichen Denkmodells stattfinden. Im vorhandenen geistigen Status sehnen wir uns nach Klarheit über das Mysterium unserer Endlichkeit und nach Auskünften über unser individuelles Fortbestehen. Aber wir schließen in unseren Überlegungen etwas fundamental Wichtiges aus: Die niemals endende Existenz eines überindividuellen Bewusstseins nämlich, das zwar mit unserem individuell empfundenen Bewusstsein identisch, aber zugleich auch das Bewusstsein aller anderen Lebewesen ist. Unser grundlegender Denkfehler, der das Verständnis für Laotses Auslegung der Schöpfung blockiert, ist unser Rechtsanspruch auf ein Bewusstsein, das sich von dem aller anderen Wesen in diesem Universum unterscheidet. Wir schreiben uns ohne alle Berechtigung, aus schierer, überlieferter Überheblichkeit ein Mehr an individueller Identität zu, ein Mehr von diesem Gefühl, ein bevorzugtes Lebewesen, die Krone der Schöpfung zu sein. Dieses angemaßte Privileg bezahlen wir in einer Währung, der wir den Namen Furcht gegeben haben. Wir können den Tod nicht verstehen, weil wir das Leben nicht verstehen. Wir wissen nichts von unserer Identität mit dem Urgrund, wir wissen nichts von einem Bewusstsein, das als ewige Flamme in allem Erschaffenen weiter brennt. Dagegen erhoffen wir für unser Ego, unter dem wir oft genug leiden, frei nach buddhistischer Tradition die Aussicht auf zahllose Inkarnationen, und diese selbstverständlich als Verkörperung mehr und mehr vom Bösen geläuterter aber nichtsdestoweniger nach wie vor mit dem alten Menschen identischer Wesen. Oder wir träumen vom ewigen Leben einer unsterblichen Seele, die ebenfalls nach wie vor unser Ich bleibt, in einem paradiesischen Jenseits, das auf die Gehorsamen wartet. Die wenigsten Trostpflaster gegen die Angst vor der Endlichkeit stehen dem Ungläubigen zur Verfügung. Für ihn geht dies alles zu Ende, und damit hat es sich – und in dieser Einstellung verbringt er seine Tage und setzt sich mit seinen Existenzproblemen auseinander.

Unsere Ängste hindern uns an der Einsicht, wie notwendig selbst für unser Glück im Grunde die Endlichkeit alles Geschaffenen ist. Unser Ja zu den Zyklen von Werden und Vergehen wäre der Beginn aller Weisheit und auch der eines tiefen Selbstverständnisses. Unsere Rolle, unsere Beteiligung an diesen Zyklen ist weitaus weniger ohnmächtig, als unsere Daseinsängste uns suggerieren. Durch unsere ungebrochene Identität mit dem Tao stellen  w i r  diese Zyklen selber her, wir sind ihre Urheber und zugleich diejenigen, die ihren Zwischenfällen ausgesetzt sind und ihre Glücksumstände erleben, in Personalunion synchron der Erfahrende und der sie durch seine Wahrnehmung Erzeugende. Wir tauschen, seitdem die Welt besteht, im Wechsel unsere Endlichkeit gegen das Unendliche ein. Die Zyklen des Werdens und Vergehens, des Hervortretens aus dem Grund und die Rückkehr dorthin schließt Individualität nicht aus, doch sie findet einzig und immerzu als Ganzes statt. Und es gehört mit zu diesem gewaltigen kosmischen Spiel, dass jedes unter Lin Yutangs zehntausend Dingen niemals für sich allein vergeht und wiederkehrt,  aber nichtsdestoweniger seine Identität subjektiv zu erleben imstande ist.

Unser Identitäts-Gefühl ist unvergänglich, nicht aber unser Ich, diese von allem getrennte innere Wesenheit, die es nur in unserem Denken gibt. Das zu erkennen bedeutet den Schritt in eine neue Dimension des Seins, in der unser Selbst das  Ich-Bewusstsein der ganzen Welt umschließt. Dann weicht auch die Angst vor unserer Vergänglichkeit einem Ahnen, dass wir uns auf etwas Außergewöhnliches zu bewegen.

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