Kontraste

Orso

Zwei kanadische Jungen streunten durch den Wald, als sich ihnen ein Grizzlybär näherte. Der eine kniete nieder und schnürte seine Joggingschuhe fester. Da sagte der andere: „Ja, glaubst du, jetzt wärst du schneller als der Bär?“ „Nein, das nicht“, lautete die Antwort des anderen – „aber schneller als du.“

*

Die Mutter schickte den kleinen Kurt einkaufen. Er kam und kam nicht zurück. Als er endlich aufkreuzte, fragte ihn die Mutter, wo er so lange geblieben wäre. Einem Jungen sei das Dreirad kaputtgegangen, erklärte Kurt und er habe ihm geholfen. „Aber du verstehst doch gar nichts von der Reparatur eines Dreirades, wie konntest du da helfen?“ wandte die Mutter ein. „Ich habe ihm geholfen zu weinen“, sagte Kurt.

Die Szene im kanadischen Wald erinnert verzweifelt an den Berufsalltag 2013. Da wird mit allen Mittel am eigenen Fortkommen gearbeitet, egal, wer von den anderen dabei auf der Strecke bleibt. Gut, Mitgefühl mit Gegnern oder gar Feinden wäre zu viel verlangt. Da siegt der Selbsterhaltungstrieb, und das ist auch richtig so und seit der Steinzeit in unserer Natur und ihren Überlebensinstinkten angelegt.
Dennoch sollte auch das andere, die Fähigkeit zu Zuneigung und Mitgefühl, lebendig in uns sein. Ich habe die zwei Beispiele in diesem Sinne als Fragen angeführt, die sich jeder, der sie liest, selber stellen kann. Prüfen wir doch einmal unsere eigene geistige Verfassung, wie wir unseren Mitmenschen – auf der einen Seite den Gegnern wie auch auf der anderen jenen, die wir mögen oder sogar lieben, begegnen.
Zum Schluss sei hier, um Missverständnissen vorzubeugen, vermerkt, dass kein Taoist jemals Sätze von der Art, dass man seine Feinde lieben soll, verfasst hat. Die zwei kanadischen Jungen allerdings waren Freunde – und da wirkt eine andere Dimension hinein.

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2 Antworten zu Kontraste

  1. gitti sagt:

    Hallo und liebe Grüße an Alle!

    Ich bin mir nicht so sicher ob es eine Rolle spielt ob diese 2 Texte eine Frau oder ein Mann liest?
    Von mir aus gesehen die ich immer an ein bißchen zu viel an Mitleid und Nachgiebigkeit litt purzeln viele Gedanken auf mich ein……
    Doch zurück auf den Boden (TAO-RAUM) gekommen, bin ich mir sicher, daß im Alltag die verschiedensten Reaktionen aus uns hervorkommen, denn die Menschen sind sehr unterschiedlich und wir müssen schauen wo wir bleiben.
    Da sind die Egoisten und dort die Gutmenschen und natürlich viele Facetten dazwischen. Ich denke, je mehr ich meine eigene Verletzlichkeit und Stärke wahrnehme desto wahrhaftiger sind meine Reaktionen.
    Liebe Grüße Gitti

  2. JE sagt:

    Hallo – an Alle!
    …..nun, natürlich ist uns die zweite Variante die sympathischere.
    Aber: Es gibt einen wesentlichen Unterschied, nicht nur im Verhalten der beiden Protagonisten, sondern auch darin, dass es in der ersten Geschichte um Leben und Tod, die eigene Existenz, geht – und um eine bewusst getroffene Entscheidung.
    In der zweiten Geschichte geht es allenfalls ‚um etwas Schelte und die Missbilligung’ der Mutter.

    Eine Frage ist also, bis wohin können bzw. wollen wir Mitleid und Herz bewahren und –vor allem können oder würden wir es in Situationen, in denen es wirklich um existenzielle Fragen geht- auch leben?

    Selbstverständlich würde ich antworten, das ich mich nicht auf Kosten eines Freundes retten würde, bin auch der Überzeugung, dass ich in einer solchen Gefahrensituation „mit meinem Freund an der Hand“ versuchen würde, zu fliehen oder einen Ausweg zu finden.
    Wie man in einer Schrecksekunde allerdings reagiert, dafür kann wohl keiner die Hand in das Feuer legen….obgleich – und hier kommt in der ersten Geschichte eine weitere Dimension hinzu, unser „Freund“ trifft ja eine bewusste und überlegte Entscheidung gegen seinen Freund….und das ist natürlich noch mal eine ganz andere Sache, die nachdenklich macht.

    Wer also würde, eine derart eigennützige und wohl überlegte Entscheidung treffen ? -…und da scheiden sich wohl die ‚Geister’…..

    Kurt und sein Freund fühlen sich -daran gibt es wohl keinen Zweifel- mit der Entscheidung „Einer für den Anderen“ sehr wohl ….und sind im Einklang.
    Im anderen Fall „Einer gegen den Anderen“ bleibt -wohl bei Beiden- ein sehr schaler Geschmack (um es milde zu formulieren) zurück.

    Entscheiden wir daher -jeder für sich selbst- wie wir wir miteinander leben wollen.

    Schön ist, dass das Ende der ersten Geschichte offen bleibt… Es wäre doch denkbar, dass der Langsamere sich hinter einem Baum verstecken kann und der Grizzly, angestachelt durch ‚den schnellen Renner‘, diesem folgt…. 🙂 ….oder….oder…oder….. überlassen wir dies „dem Lauf der Dinge“.

    ….und grüßen alle Kurt’s….:-)

    Herzlichst
    JE

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