Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.
Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander.
Stimme und Ton sich vermählen einander. Vorher und Nachher folgen einander.
Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln. Er übt Belehrung ohne Reden.
Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht. Er wirkt und behält nicht.
Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.
Und eben weil er nicht verharrt, bleibt er nicht verlassen.
Würden wir die Täler zuschütten, hätten wir keine Berge mehr. Ich weiß nicht, von wem diese Weisheit stammt, aber Laotse hätte sie gut an den Anfang dieses Textes stellen können. Nach dem ersten Spruch mit der Offenbarung vom Tao, das nicht das ewige Tao ist, sobald man es benennen kann, setzt er im zweiten Spruch seines Werkes den Eckstein für das Entstehen der Polarität. Zeile um Zeile führt er uns vor, wie der menschliche Verstand sich seine Welt in Gegensätze unterteilt und wie im Grunde unser ganzer Wahrnehmungsapparat über den Vergleich der Kontraste zueinander operiert. Forscher, die sich mit dem menschlichen Verhalten befassen, schreiben uns sogar die Fähigkeit ab, ein Ding überhaupt als vorhanden zu erkennen, wenn es sich nicht durch irgendeine Kontrastwirkung von anderen Dingen unterscheidet. Praktisch so ähnlich, als würden wir einen grünen Mann vor einer grünen Wand suchen. Und nicht nur das. Unsere Psyche ist so konditioniert, dass sie ständig das Bedürfnis hat, Gegensätze miteinander zu versöhnen – sie wollen Yin zu Yang machen oder Gewalttätigkeit in Gewaltlosigkeit umwandeln. Laotse weist in der ersten Hälfte des Spruches auf die Absolutheit von Gegensätzen hin, wie sie von uns Menschen durch unser Bewerten und durch unsere Sucht nach festgelegten Formeln definiert werden. In der zweiten Hälfte weist Laotse am Beispiel seines Berufenen auf die Chancen hin, die Kontraste mit Hilfe einer bestimmten Geisteshaltung „einzuebnen“. Ich habe den Begriff einebnen aus dem taoistischen Wortschatz übernommen. Im Sinne unserer westlichen Denkungsart käme das Wort mehr dem Zuschütten der Täler nahe – was viele Menschen, mit den Untiefen des Schicksals konfrontiert, auch zu tun versuchen. Doch das meinen die Taoisten damit nicht. Weiterlesen →